Interview

«Jedes Material verdient Respekt»

Mit Projekten wie dem «Roten Platz», der Kurklinik Oberwaid in St.Gallen oder dem «Zauberhut» im Rapperswiler Kinderzoo hat sich Carlos Martinez einen Namen gemacht. Im Interview spricht der renommierte Architekt aus der Ostschweiz darüber, wie er mit verschiedenen Baumaterialien umgeht und warum auch die Betonvorproduktion in seiner Arbeit einen festen Platz hat.

Carlos Martinez, wie oft kommen Sie mit vorfabrizierten Betonelementen in Kontakt?
Regelmässig – sie sind heute ein integraler Bestandteil des Bauens, genau wie andere Materialien. Schon als junger Architekt habe ich mit Betonelementen experimentiert. Dabei wurde mir bewusst, dass Baustellen oft keine idealen Bedingungen für präzise Fertigungen bieten. In den Produktionshallen spezialisierter Unternehmen hingegen herrschen optimale Voraussetzungen, um höchste Qualität und Präzision zu gewährleisten.

Welche Vorteile sehen Sie im Bauen mit Betonelementen?
Man könnte annehmen, dass die Vorproduktion gestalterische Einschränkungen mit sich bringt, doch das Gegenteil ist der Fall. Wir können Betonelemente exakt nach architektonischen Vorstellungen fertigen. Durch den Einsatz von Matrizen lassen sich zudem unterschiedlichste Oberflächenstrukturen realisieren, die oft feiner ausfallen als beim Ortbeton. In den Projekten meines Teams spielen geschwungene Formen eine wichtige Rolle. Auch hier bietet die Vorproduktion ideale Voraussetzungen, um komplexe Geometrien präzise umzusetzen.

Carlos Martinez bevorzugt seine Büroumgebung, um neue Projekte zu planen.

Wann finden Sie ein Gebäude schön?
Grundsätzlich lernen wir als Architekten, dass die Proportionen harmonisch sein müssen – etwa, dass Fenster die richtige Grösse haben und an den passenden Stellen platziert sind. Ich schätze viele verschiedene Bauweisen und kann daher keinen bevorzugten Stil nennen. Letztlich spielt die Funktion eine entscheidende Rolle – ob es sich um einen Industriebau, einen Wohnkomplex oder ein öffentliches Gebäude handelt. Die Ästhetik folgt stets dem Zweck des Baus. Im Grossen und Ganzen muss ein Gebäude vor allem funktional sein und eine klare Aussage treffen. Es geht darum, dass die Form die Funktion unterstützt und das Gebäude eine Identität erhält, die sowohl den praktischen Bedürfnissen als auch den kulturellen und emotionalen Aspekten gerecht wird.

Inwiefern muss der Baustoff mit der Funktionalität des Gebäudes im Einklang stehen?
Die Wahl des Baustoffs hängt immer vom Standort, der Umgebung und der späteren Nutzung des Gebäudes ab. In einer urbanen Umgebung kann Holz beispielsweise fremd wirken, während ein massiver, muraler Bau dort oft besser passt. Letztlich verleiht jedes Material einem Gebäude eine bestimmte Ausdruckskraft – und diese ist untrennbar mit dem gewählten Baustoff verbunden.

«Jedes Material hat seine Berechtigung und seinen idealen Einsatzbereich.»

Carlos Martinez, Architekt

Holz oder Beton – welchen der beiden Baustoffe bevorzugen Sie?
Spannend ist vor allem die Kombination. Selbst bei einem Holzbau kann es sinnvoll sein, den Sockel aus Beton zu gestalten – dafür gibt es zahlreiche bewährte Beispiele. Als Architekt habe ich mich intensiv mit den Eigenschaften verschiedener Materialien auseinandergesetzt. Früher dachte ich, dass sich mit der Zeit eine klare Präferenz entwickeln würde. Doch das ist nicht der Fall. Jedes Material hat seine eigene Berechtigung und seinen idealen Einsatzbereich.

Was gefällt Ihnen besonders am Beton?
Beton ist ausserordentlich stabil und bietet eine enorme Formbarkeit. Zudem lässt sich die Statik mit Beton oft einfacher handhaben. Besonders faszinierend finde ich auch den Holzbetonverbund, vor allem, wenn es um Themen wie Brand- und Schallschutz geht. Jedes Material muss jedoch mit Respekt behandelt werden – nur so kann es seine vollen Vorteile entfalten.

Erzeugen gewisse Baumaterialien bestimmte Emotionen?
Interessant, dass Sie das ansprechen. Tatsächlich habe ich mich intensiv mit dem Thema Material und Sinnlichkeit beschäftigt, als ich 2004 für die Universität Konstanz während eines Workshops einen Vortrag hielt. Dabei musste ich jedoch feststellen, dass mein ursprünglicher Ansatz nicht ganz richtig war. Die Sinnlichkeit entsteht nicht primär durch das Material selbst, sondern durch seine Verarbeitung und seinen gezielten Einsatz. Jedes Material ist das, was wir daraus machen. Entscheidender für das Gefühl, das man in einem Gebäude entwickelt, sind Einflüsse wie Licht oder Oberfläche und Farbe. Beton lässt sich so formen, dass er eine weiche, fast kissenartige Wirkung erzielt. Auch durch die Struktur ändert sich der Ausdruck stark.

Welchen Stellenwert hat die Nachhaltigkeit in Ihrer Arbeit?
Nachhaltigkeit hatte für mich schon immer einen hohen Stellenwert. Früh habe ich mit vorfabrizierten Holzkonstruktionen geforscht und gearbeitet. Wir durften 1995 die ersten Brandmauern in Holzbau erstellen. Bei der Siedlung Sparta in Widnau haben wir die Raumhöhen so gewählt, dass alle Treppenläufe exakt gleich vorfabriziert werden konnten. Das war damals wichtig und wir konnten 33 gleiche Elemente herstellen lassen. Bei der Nachhaltigkeit ist es für mich besonders wichtig, Gebäude zu entwerfen, die flexibel sind und sich im Laufe der Zeit an neue Nutzungen anpassen können. Als Architekten müssen wir bereits von Beginn an mitdenken, wie das Gebäude später umgenutzt werden könnte, damit es für über 100 Jahre erhalten bleibt. Dabei spielt die statische Struktur eine grosse Rolle.

Wie fliessen diese Überlegungen in Ihre Projekte mit ein?
In der Architektur geht es uns grundsätzlich darum, massgeschneiderte Lösungen für den Kunden zu entwickeln. Das bedeutet jedoch nicht, dass man die Überlegungen zur Flexibilität eines Gebäudes ausser Acht lassen sollte. Ein Industriebau kann so geplant werden, dass er perfekt auf den Bauherren zugeschnitten ist, gleichzeitig aber auch eine spätere Umnutzung ermöglicht. Dies hängt oft davon ab, wie man Tragstrukturen und Stützen plant. Zudem sollte der Bau so realisiert werden, dass die Bauteile später voneinander getrennt werden und die Installationen bei Bedarf leicht verändert werden können.

Beton hat bezüglich seiner CO2-Bilanz nicht den besten Ruf. Was muss die Industrie tun, damit sich dies ändert?
Ich finde, die Industrie unternimmt bereits viel in diese Richtung, und immer wieder höre ich von erfolgreichen Forschungsprojekten, die die Betonproduktion nachhaltiger machen. Kürzlich haben wir in einem Projekt Zirkulitbeton verwendet. Dieser enthält hochwertig aufbereitete Sekundärrohstoffe und nutzt einen reduzierten Zementanteil sowie CO2-arme Zementsorten. Es handelt sich um ein Material, das alle technischen Eigenschaften von herkömmlichem Beton aufweist, jedoch kreislauffähig ist.
Darüber hinaus müssen wir auch die graue Energie berücksichtigen. Dazu gehören zum Beispiel die Transportwege. Wenn sich ein Betonwerk in der Nähe befindet, wie es bei uns im St.Galler Rheintal der Fall ist, kann auch der Einsatz von Beton zu einem geringen CO2-Fussabdruck führen. Nachhaltigkeit ist komplex.

Wann und warum entscheiden Sie sich für diese oder jene Art der Betonproduktion?
Das ist immer situationsabhängig. Wenn in der Gestaltung Elemente vorkommen, die sich wiederholen, bietet sich die Vorproduktion an. Auch wenn besonders dünne oder filigrane Formen gewünscht sind, ist sie von Vorteil. Bei sehr grossen Projekten stösst jedoch auch die Vorproduktion an ihre Grenzen, da hier die Dimensionen eine Herausforderung darstellen können.

Short Cuts

«Der Hauptsitz der Firma Sonnenbau in Diepoldsau. Das Gebäude steht an einem heterogenen Ort an der Hauptstrasse. Es nimmt sich in seiner Schlichtheit zurück und tritt doch positiv in Erscheinung.»

«Der Kursaal in San Sebastián von Rafael Moneo. In diesem Gebäude in Nordspanien befinden sich zwei grosse Säle für Konzerte. Die zwei Baukörper symbolisieren Steinbrocken, wie sie in Häfen als Wellenbrecher eingesetzt werden. Sie stehen eigenständig da, sind aber in einen gemeinsamen Sockel gepackt, der kaum in Erscheinung tritt. Rafael Moneo hat ein Gebäude geschaffen, das gleichzeitig eine Skulptur ist.»

Bild: WikiArquitectura, Guillermo

«Ein Hochhaus. Die Herausforderung der Höhe reizt mich. Je grösser ein Gebäude ist, desto schwieriger wird es, die Ästhetik zu wahren.»

In welchen Projekten von Ihnen stecken vorfabrizierte Betonelemente?
Ein Beispiel ist die Raiffeisenbank in Oberriet, deren Fassade aus vorgefertigten Betonelementen besteht, die mit Glasfasern verstärkt sind. Diese Fassade ist zudem mit einem Titan-Zinkoxid-Zusatz versehen, der eine luftreinigende Wirkung erzielt. Ein weiteres Projekt ist das Geschäftsgebäude für die Firma Sonnenbau in Diepoldsau, bei dem wir die ansonsten gerade Fassade mit elliptischen Formen aufgebrochen haben. Auch bei unserem eigenen Bau, dem Hauptsitz unseres Architekturbüros in Berneck, kamen Betonelemente zum Einsatz – sowohl im Sockelbereich als auch bei der Fassade. Besonders interessant dabei ist, dass wir die Fassadenplatten auch auf dem Dach verwendet haben.

Wo holen Sie sich Ihre Inspiration?
Beim Arbeiten, in der Auseinandersetzung mit dem Ort und der Aufgabe. Auch der Austausch mit meinem Team ist eine wichtige Inspirationsquelle. Die übergeordnete Idee entsteht oft zuerst verbal. Also als Text, was es werden soll, welche Aussagen es machen soll, wie es organisiert werden muss.

Ihre Heimat Nordspanien ist ein europäischer Hotspot für moderne Architektur. Sind Sie oft dort?
Ja. Und natürlich werde ich auch dort immer wieder inspiriert. Das Reisen im Allgemeinen eröffnet neue Horizonte. Wenn ich auf Reisen bin, liebe ich es, architektonische Bauten zu besichtigen. Besonders faszinieren mich die einzigartigen Bauwerke in meiner Heimat Asturien, die eine perfekte Mischung aus traditioneller und moderner Architektur bieten. Diese Eindrücke fliessen immer wieder in meine eigenen Projekte ein, insbesondere in Bezug auf Materialwahl und innovative Formen.

Carlos Martinez

Carlos Martinez wurde 1967 in Widnau SG geboren. Nach seiner Ausbildung als Hochbauzeichner studierte er von 1988 bis 1992 Architektur am Abendtechnikum St.Gallen. Seit 1993 ist er Mitglied im Schweizerischen Werkbund und er war bis 2009 Architekturexperte der Eidgenössischen Kunstkommission. Mit seinem Büro realisierte er über 100 Projekte. Für seine herausragenden Leistungen wurde er 2017 mit der Goldmedaille des «Foro Europeo Cum Laude» ausgezeichnet.

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