Marloes Fischer, es wird viel gebaut in der Schweiz, aber wie oft wird heute bereits zirkulär gebaut?
Im einstelligen Prozentbereich. Das ist wenig, aber mehr als vor fünf Jahren. Damals kannte ich jedes Projekt und heute kann ich die Anzahl der Projekte nicht mehr überblicken. Auch bei Sanierungen werden zirkuläre Prinzipien angewendet. Das heisst, die tragfähigen Elemente bleiben stehen und der Rest wird erneuert. 2017 habe ich recherchiert, was zur Kreislaufwirtschaft bereits geschrieben wurde. Da kam bei Google ein einziger NZZ-Artikel. Die gleiche Recherche bringt heute endlos viele Treffer. Das zeigt, dass die Sensibilisierung gestiegen ist. Wer sich mit Innovationen in der Baubranche auseinandersetzt, stösst heute automatisch auf dieses Thema. Oft geht es dabei um die Reduktion von CO2. Wenn wir aber langfristig denken, dann muss auch der Materialeinsatz reduziert werden.
Damit das Bauwesen zirkulär wird, müssen alle Player zusammenarbeiten – und zwar vom Planen übers Finanzieren und Erstellen bis hin zum Bewirtschaften der Immobilien. Wie kann das Umdenken gelingen?
Es braucht einen Kulturwandel. Das heisst, dass die Bauherrschaften zirkuläre Prinzipien verlangen müssen. Dann sind die Planer verpflichtet, ein Projekt bis zum Ende der ersten Lebensphase zu denken. Auch in der Ausbildung braucht es Anpassungen. Bei den meisten Projekten hat heute das Verkaufspotenzial oberste Priorität. In Zukunft sollten aber vielmehr die Endnutzer und ihre Bedürfnisse im Zentrum stehen. Ich bin sicher, dass diese Änderungen rasch kommen. Investoren sollten darum nicht abwarten, sondern Zirkularität bereits jetzt integrieren, auch wenn noch nicht alles perfekt ist.
Was sind die grössten Hindernisse bei der Umsetzung der Kreislaufwirtschaftsprinzipien in der Baubranche?
Die Veränderungen kommen sehr schnell, aber die Prozesse in der Baubranche sind anders getaktet und es gibt wenig Flexibilität. Nehmen wir als Beispiel eine Baueingabe. In den zwei Jahren bis zum Baustart passieren so viele Innovationen, dass das Projekt dann schon veraltet ist. Doch es gibt Vorgehensweisen, die die Flexibilität erhöhen. Beispielsweise die integrierte Projektabwicklung, welche bei der Planung eine bessere Zusammenarbeit aller Beteiligter ermöglicht.
Abbrechen, aufbereiten, weiterverwenden – wird das Bauen so nicht komplizierter und kostenintensiver?
Es kostet immer, sich auf die Zukunft vorzubereiten. Innovation gibt es nicht umsonst. Am Anfang ist die Planungsphase sicher aufwändiger, weil man mit der neuen Methode noch nicht vertraut ist und zuerst Erfahrungen sammeln muss. Doch bei jedem weiteren Projekt kann man das Gelernte anwenden und wird besser. Die Baukosten hingegen sind vergleichbar.
Welche Pionierprojekte mit vorfabrizierten Betonelementen gibt es?
Aktuell läuft in Basel ein grosses Re-Use-Projekt: Ein altes LKW-Parkhaus von Coop wird zurückgebaut und die demontierten Betonelemente werden für eine Wohnüberbauung weiterverwendet. Und im Frühling 2024 wurde in Winterthur das Innovationslabor Grüze eröffnet. Das ist ein Pavillon, der später vollständig zurückgebaut werden kann. Dieses Projekt finde ich sehr spannend, da es ein Leichtbau aus carbonfaserverstärkten Betonelementen (CPC) ist und somit viel Material eingespart werden konnte. 2021 haben Forschende der ETH Lausanne mit Betonblöcken aus den Wänden eines Abbruchgebäudes eine Bogenbrücke für Fussgänger konzipiert. Und im NEST der Empa gibt es ein Projekt mit der Stahlton Bauteile AG für Geschossdecken mit minimiertem Materialeinsatz.
Was können Hersteller von Betonfertigteilen von diesen Vorzeigeprojekten lernen?
Insbesondere, dass die Rückbaubarkeit und die digitale Rückverfolgbarkeit der Elemente sehr wichtig sind. In den Niederlanden gibt es ein anderes spannendes Projekt, wo man das exemplarisch sehen kann: das temporäre Gerichtsgebäude in Amsterdam. Ganz früh im Planungsprozess wurden alle, die mit der Tragkonstruktion des Gebäudes zu tun hatten, auf die Baustelle bestellt. Vor Ort wurde dann geschaut, wie die Betonelemente konzipiert sein müssen, damit sie rückbaubar sind. Die so entwickelten Teile sind heute Standard in den Niederlanden. Dieses Beispiel zeigt, wie wichtig es für einen Hersteller ist, bereits in einer frühen Projektphase mitzuarbeiten und die Umsetzung auf der Baustelle zu überprüfen. Oder einfach formuliert: Denk mit, mach mit, probiere aus und lerne daraus.
Welche konkreten Massnahmen können Elementwerke ergreifen, um ihre Produkte kreislauffähig zu gestalten?
Der erste Schritt ist ein Bekenntnis zur Kreislaufwirtschaft. Weiter braucht es eine Auslegeordnung: Was verstehen wir genau unter Zirkularität? Was machen wir bereits? Wie können wir darauf aufbauen? Und was wollen wir erreichen? Mit Circular Hub begleiten wir Firmen aus der Baubranche in diesem Transformationsprozess – vom Brainstorming über zirkuläre Lösungsansätze für ein konkretes Projekt bis zur Entwicklung einer neuen Strategie.
Die Kreislaufwirtschaft verlangt auch nach neuen Geschäftsmodellen: Statt neue Produkte zu verkaufen, werden gebrauchte Materialien weiterverwendet. Wie überzeugen Sie einen Hersteller von Betonvorfabrikaten, dass sich die Transformation lohnt?
Für mich ist Verkauf und Wiederverwendung kein Widerspruch. Die beiden Geschäftsmodelle lassen sich kombinieren. Die Produzenten sehen die Elemente, die heute eingebaut werden, als Ressource für die Zukunft und schliessen Rückkaufverträge ab. Eine andere Möglichkeit ist die Vermietung von Elementen. Auch die Rückverfolgbarkeit kann Teil des Geschäftsmodells sein. Wenn jedes Element digital erfasst ist, kennt der Hersteller von jedem Element den Standort und weitere wichtige Kennzahlen und kann so die Weiterverwendung langfristig planen.
Sie haben auch die Plattform C33 mitgegründet, eine zentrale Anlaufstelle für zirkuläres Bauen. Bis spätestens 2033 soll zirkuläres Bauen die neue Norm sein in der Schweiz. Wo stehen wir aktuell?
Die Anzahl der Bauherrschaften, die sich mit der CO2-Problematik beschäftigt, hat exponentiell zugenommen. Auch verschiedene Städte und städtische Regionen setzen sich mit der Kreislaufwirtschaft auseinander – als Bauherren und als Verwaltung. Ausserdem tritt am 1. Januar 2025 das revidierte Umweltschutzgesetz in Kraft mit einem Artikel über ressourcenschonendes Bauen. Vieles ist in Bewegung und diese Entwicklungen sind ein wichtiger Beitrag zu einem zirkulären Bauwesen. Es ist noch ein langer Weg, aber je früher man dabei ist, desto schneller kann man sich die Erfahrungen aneignen.
Marloes Fischer
Die studierte Kommunikationswissenschaftlerin und Japanologin gründete 2018 den Circular Hub, eine Wissens- und Netzwerkplattform für ein zirkuläres Bauwesen in der Schweiz. Davor war sie bei verschiedenen grossen Unternehmen als Beraterin und Managerin im Bereich Lean Operations tätig.